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Bundesrats-Entscheid: Wird es reichen?

Der Bundesrat hat neue Corona-Massnahmen entschieden. Das ist ein kurzer Wochenrückblick, den Melinda Nadj Abonji und ich an die Unterzeichnenden des Aufrufs «Gegen die Gleichgültigkeit» geschickt haben:

Liebe Unterzeichner*innen

Wir alle warteten am Freitag auf die Kommunikation des Bundesrates in der Hoffnung, dass endlich die dringend notwendigen Entscheidungen getroffen würden, die längst hätten getroffen werden sollen. Am Nachmittag präsentierte die Exekutiv-Behörde dann folgende Massnahmen, die vom 22. Dezember bis zum 22. Januar 2021 gelten sollen:

  • Restaurants und Bars werden geschlossen.
  • Sportbetriebe, Museen, Kinos, Bibliotheken, Casinos, botanische Gärten und Zoos werden auch geschlossen. Veranstaltungen mit Publikum bleiben verboten.
  • Die Kapazität von Läden wird nochmals eingeschränkt, sie bleiben ab 19 Uhr, sowie an Sonn- und Feiertagen geschlossen.
  • Empfehlung: Bleiben Sie zu Hause.
  • Weiterhin gelten: Homeoffice-Empfehlung, ausgedehnte Maskenpflicht, etc.

Einen kompletten Lockdown will der Bundesrat, so sagte er am Freitag, verhindern. Während die Schliessung der Restaurants sicherlich einschneidend ist, sind die Massnahmen massiv lockerer, als dies noch wenige Tage davor erwartet worden war. Nur – reicht das? Das ist die wesentliche Frage.

Manuel Battegay, Epidemiologe und Mitglied der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes, mahnte am Freitag in der SRF Arena: «Wir denken, es braucht mehr. Das belegt auch die wissenschaftliche Evidenz. Wenn wir uns die Romandie ansehen: Die Zahlen sanken nach den dortigen Massnahmen zuerst, aber jetzt steigen sie wieder. Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung der Situation. Die Mobilität muss sinken, die Kontakte müssen eingeschränkt werden.»

Der aufrüttelnde und berührende Höhepunkt der Sendung war eine Direktschaltung zum Leiter der Pflege Intensivstationen des Kantonsspital Aarau. Mit Maske und in Schutzkittel schilderte Martin Balmer eindringlich, dass die Leute erschöpft sind, sich nicht mehr genügend erholen können und seelisch belastet sind: «Ich habe noch nie in den 30 Jahren Intensivmedizin erlebt, dass Ärzte und Pflegende so viel weinen.» Und ein Ende sei nicht absehbar. Balmer schloss seinen Beitrag mit den Worten: «Vergesst uns nicht!»

Genau das ist aber geschehen: Obwohl sich die Situation seit dem Herbst dramatisch zugespitzt hat, wurde die Situation in den Spitälern und Alters- und Pflegeheimen zu wenig ernst genommen. Die so genannte Zweite Welle machte es notwendig, die Bettenkapazität zu erhöhen – aber das Pflegepersonal fehlte; infolgedessen rief man Pflegende aus ihren Ferien zurück, ehemalige Mitarbeitende wurden wieder aufgeboten und neues Personal musste kurzfristig eingeschult werden.

Auch das reicht gegenwärtig nicht: es ist bekannt, dass sogar positiv auf das Coronavirus getestetes Pflegepersonal arbeiten muss. Die Pflegenden begleiten die schwerkranken Menschen oftmals allein bis in den Tod, da wegen des Coronavirus ein Besuchsstopp herrscht, die Familien also am Totenbett nicht anwesend sein können. Als wäre das nicht genug, lastet auf den Pflegerinnen und Pflegern eine schwere, seelsorgerische Aufgabe, nämlich die Angehörigen während dem Sterbeprozess per Telefon zu begleiten.

Aus einer wissenschaftlichen Sicht ist längst klar, was es für eine Senkung der Ansteckungen braucht: Die Reproduktionszahl, welche die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit beschreibt, muss drastisch gesenkt werden – und zwar auf höchstens 0.8, wie die Wissenschaftler der Taskforce schon im Oktober sagten. Ein R-Wert von 0,8 bedeutet: 100 Corona-Infizierte stecken 80 weitere an. Damit würden sich die Neuansteckungen rund alle zwei Wochen halbieren.

Umso erstaunlicher ist, dass gemäss aktuellem Bundesratsbeschluss Kantone mit einer Reproduktionszahl unter 1 die Restaurants und Sporteinrichtungen wieder öffnen können. Mit einer Reproduktionszahl, die knapp unter 1 liegt, kann bestenfalls eine Stabilisierung oder nur eine sehr langsame Reduktion der Infektionen und der Todesfälle erreicht werden, wie Daniel Binswanger in seiner Republik-Wochenkolumne schreibt: «Das grosse Sterben wird weitergehen.»

Wir befürchten deshalb, dass die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen nicht ausreichen, um die Zahlen effektiv zu reduzieren. Und auch nicht, um die Spitäler und die Pflegenden zu entlasten.

Es drängen sich die Fragen auf: Wie viele Menschen werden noch sterben, bis die politischen Entscheidungsträger die Gesundheit und das Leben als oberstes Gut anerkennen? Wie lange dauert es noch, bis sich die Schweiz geschlossen aus ihrer moralischen Apathie löst, die das Sterben von betagten Menschen mit einem gleichgültigen Schulterzucken hinnimmt?

Die klarste Botschaft diesbezüglich kam nicht von einem amtierenden Mitglied des Bundesrates, sondern von der Alt-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, gegenwärtige Stiftungspräsidentin der Pro Senectute. In einem Interview mit dem Blick sagte sie diesen Donnerstag: «Ich frage mich, wer denn in einer Gesellschaft leben möchte, in der man den Wert eines Lebens am Alter einer Person misst.»

Der fehlende politische Wille und das mangelnde Mitgefühl der Entscheidungsträger ist erschütternd. Das zeigt, dass unser Engagement wichtig ist – und bleibt. Wir machen weiter und danken euch, wenn ihr den Aufruf weiterhin teilt.

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Wir werden uns vor den Festtagen nochmals bei euch melden und wünschen euch bis dahin alles Gute und gute Gesundheit.

Herzliche Grüsse
Melinda Nadj Abonji & Dimitri Rougy

PS: Wir empfehlen euch sehr herzlich die Sendung «Gredig direkt» mit Adolf Muschg, der unseren Aufruf erstunterzeichnet hat. Im SRF blickt er unter anderem auf das bald endende Jahr 2020 zurück. Hier findet ihr die Sendung.

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